Faseltierhaltung

Faseltierhaltung in Crainfeld

Der Wort Faselvieh bedeutet nach dem Adelung´schen „Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von 1793" das zur Zucht bestimmte Vieh, zum Unterschiede des Mastviehes. Da man dergleichen Vieh nur nothdürftig zu füttern pfleget, so bedeutet Faselvieh oft überhaupt mageres, ungemästetes Vieh.
Zuchtbullen werden mancherorts auch Faselochsen genannt.
Die folgende Darstellung beruht im Wesentlichen auf dem mündlichen Bericht von Heinrich Herchenröder (Sohn von Johannes und Margarete) am 5. März 2014 in Crainfeld.

Das Haus des Bullenhalters

Im Jahr 1937 sind Johannes Herchenröder und seine Ehefrau Margarete (geb. Mühling) in Crainfeld in ein Haus in der früheren Crainfelder Bahnhofstraße – heute Frankfurter Straße 3 – gezogen.  Johannes kam aus Salz und arbeitete in Crainfeld als Knecht, Margarete geb. Mühling kam aus einer Crainfelder Familie. Die Gemeinde hatte dieses Haus im gleichen Jahr von Josef Bär gekauft, der seinen Eisenwarenhandel aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung aufgeben mußte und zu seiner Tochter nach Sterbfritz zog. Familie Herchenröder hat das Porzellanschild der Familie Bär mit der Aufschrift „Privat“ an der Tür zur guten Stube immer angebracht gelassen.

Die Hausnamen des Hauses, heute Frankfurter Strasse 3:

Volzbostebäckerjes (von 1712 bis 1881)
Damals Eigentum der Fam. Volz und Nachfahren Usinger und Löffler.

Kadaljes (von 1881 bis 1937)
Damals Eigentum der jüdischen Fam. Bär; zuerst Daniel, dann Sohn Josef Bär.

Bullehannes (von 1937 bis ca. 1986)
Eigentum der Gemeinde Crainfeld von 1937 bis 1980. Seit 1980 Eigentum von Rohnke und Hollederer.

Die Kommune Crainfeld machte das Gebäude zum Gemeindehaus. Der Mieter war also gleichzeitig Angestellter der Gemeinde. Zu seinen Aufgaben gehörte die Haltung der Dorfbullen und des Dorfebers. Fast jedes Dorf hatte damals noch bis nach in die Nachkriegszeit seine eigene Bullen- und Eberhaltung. Eine weitere gemeindliche Aufgabe des Bullenhalters in Crainfeld war auch das Ausheben der Gräber und das Mähen der Grasflächen auf dem Friedhof.

Auf dem Hausdach war auch die Sirene montiert und links neben der Haustür befand sich der kleine Glaskasten, den man bei Brand- oder sonstiger Gefahr einschlagen musste.

Das Wohnhaus ist zur Hälfte unterkellert. Der vordere Kellerraum war immer gefüllt mit Dickwurz (=Runkelrübe). Mit der „Krutzmühl“ hat man die Dickwurz geschreddert. Für die Verfütterung hat man die gekrutzte Dickwurz mit gehäckseltem Stroh gemischt. Die Scheune war voller Heu, das an die Bullen und Eber verfüttert wurde; Gras wurde wenig zugefüttert.

Die Bullenhaltung

Im Bullenstall war Platz für drei Tiere, jeweils zwei Bullen und zeitweise einen Jungbullen. Die Tiere waren mit einem Nasenring versehen. Gehalten wurden die Tiere immer im Stall. Wurden die Deckbullen nach draußen auf die Hofreite geführt, geschah dies mit einem langen Stock (ca. 1m lang), der mit einem Karabinerhaken am Nasenring befestigt wurde. Die Bullenhaltung war eine nicht ungefährliche Arbeit und ein bestimmter Abstand zum Tier war daher eine wichtige Vorsichtsmaßnahme. Ein Bulle kann bis zu 18 Zentnern wiegen. Auch beim Tränken der Tiere mit Eimern war große Umsicht angebracht, denn der Stall war eng und man musste sich ihnen von hinten nähern. Der Wassertrog im Stall war immer gefüllt, denn die Bullen durften kein eiskaltes Wasser direkt aus der Leitung bekommen.

Der Jungbulle – er war noch nicht deckfähig – wurde vom Sohn Heinrich öfter durchs Dorf geführt, um etwas Bewegung zu haben. Wenn Fremde sich den Tieren näherten, dann brüllten sie. Hygiene bei der Bullenhaltung war sehr wichtig und deshalb wurde vor dem Sprung in die Scheide der Kuh eine desinfizierende Salbe eingeführt.

Alle 2 ½ bis 3 Jahre kaufte die Gemeinde neue Bullen, zur Inzucht sollte es ja nicht kommen. Es wurde eine genaue Dokumentation erstellt: welche Kuh wann von welchem Bullen besamt wurde.

„Abgängige“, also nicht mehr deckfähige Bullen wurden versteigert. Dazu kamen die Metzger aus den benachbarten Dörfern. Ebenfalls anwesend war der Crainfelder Bürgermeister. Übrigens muss ein Bulle vor der Schlachtung nicht beschnitten werden, im Gegensatz zum Eber.

Die Eberhaltung

Im Eberstall befanden sich drei Boxen. Alle zwei Jahre wurde ein neuer Eber angeschafft.

Der alte wurde beschnitten, sodass sich die männlichen Hormone abbauten, das Fleisch war dann zum Verzehr geeignet. Das Tier blieb noch ca. 6 Wochen im Stall stehen und wurde gemästet. Die Familie Herchenröder durfte es selbst schlachten, verarbeiten und verzehren – dies war Teil der Entlohnung.

Der Deckakt fand in der Hofreite statt. Manchmal kam der „Sprungstand“ zum Einsatz. Gelegentlich war das weibliche Tier noch nicht so weit und der Bauer musste seine Sau unverrichteter Dinge wieder mitnehmen.

Johannes Herchenröder hat über alle Vorgänge – wie z.B. die Anzahl der „Sprünge“ oder die Futterabgabe der Bauern genau Buch geführt.

Crainfeld hatte einen Gemeindeacker samt Wiese außerhalb des Ortes. Dieses Land wurde von allen Bauern gemeinsam bestellt, entsprechend dem Anteil ihrer Kühe und Schweine.  Alle Erträge dieses Ackers waren für die Versorgung der Gemeinde-Vatertiere bestimmt. Vorrat an Futter war immer genügend vorhanden: die Futterkisten in der Scheuer waren voll. Das Heu wurde mit mehreren Männern bis hoch oben in die Scheuer befördert. Die Kinder mussten es festtreten, sodass es gut gelagert war und alles reinpasste.

Im Jahr 1941 wurde Johannes Herchenröder zur Wehrmacht eingezogen. Seine Arbeit mit dem Faselvieh machten bis zu seiner Rückkehr aus dem Krieg die Nachbarn Heinrich Karl von „Karljes“ und Heinrich Beyer von „Keihirts“.

Bürokratisches zur Faseltierhaltung

Zuchtbullen

Im April 1938 schloss die Gemeinde Crainfeld mit Johannes Herchenröder einen Vertrag über die Bullenhaltung. Die Urkunde umfasst drei Seiten um führte detailliert die Pflichten des Bullenhalters auf, der für den Zeitraum von einem Jahr für die beiden Bullen je 300 Mark erhalten soll. Genauestens festgelegt sind gesundheitliche (Fütterung, Stallgröße) und tierärztliche (jährliche Vorführung) Anweisungen sowie die „Sprunghäufigkeit“ (3 x pro Tag mit Ruhepausen) und die Führung einer „Deckliste“.
Die Gemeinde Crainfeld war anscheinend mit Herchenröder Arbeit zufrieden, denn im anschließenden Vertrag von 1939 erhöhte sie das Entgelt für den ersten Bullen auf 400 Mark und verlängerte die Laufzeit auf drei Jahre. Außerdem wurde freie Wohnung und Wassergeld gewährt und die Haltung einer Ziege und eines Schweins erlaubt.

Das Tierzuchtamt Hessen-Nassau in Gießen, dem der Bürgermeister von Crainfeld den Vertrag 1939 offensichtlich in vorbeugendem Gehorsam den Vertrag vorgelegt hatte, schrieb zurück, es sei allein die Gemeinde Crainfeld zuständig. In diesem Schreiben ist vor allem das überdeutliche Blut-und-Boden-Emblem des Reichsnährstandes bemerkenswert.

Auch noch in den Zeiten nach dem Zeiten Weltkrieg wurden erbrachte Leistungen in Naturalien abgegolten, wie der Vertrag der Gemeinde Crainfeld mit dem Hirten Rudolf Spiller vom Mai 1945 zeigt:

Das tägliche Treiben des Jungviehs wurde mit 900 Mark entlohnt, für die gesamt Weideperiode.

Als Deputat (Naturallohn) erhielt der Hirte vom Besitzer eines jeden Stücks Jungvieh fünf kg Roggen oder Weizen.

Die Bullenhaltung hatte keine Zukunft

In den 1950 er Jahren nahm die künstliche Besamung als alternative Methode für die Zucht einen immer breiteren Raum ein. Für den Vogelsberg wurde die „Zentralbesamungsstation Gießen“ zuständig. Das blieb nicht ohne Folgen für die Eber- und Bullenhaltung in den Dörfern, wie ein Brief an die Gemeinde Crainfeld zeigt. Heinrich Lind II. aus Crainfeld schrieb im Februar 1953 formlos: Da ich mein Rind künstlich besamen lasse, melde ich das Decken desselben durch den Gemeindebullen ab.

Im Aug. 1953 wurde mit einem Schreiben der Gemeinde Crainfeld dem Gemeindefaseltierhalter J. Herchenröder der Vertrag zur Bullenhaltung gekündigt. Die Begründung: auf Anordnung des Tierzuchtamtes in Gießen war der „Gemeindebullenstation in Crainfeld, infolge des Verdachtes der Deckseuche die Deckerlaubnis bis auf weiteres entzogen“ worden. Verbunden war diese Kündigung mit einem Dank an Herchenröder für die bisherige geleistete Arbeit.

Vorausgegangen waren häufige Klagen der Tierhalter über das „Umrindern“ ihrer Tiere (= Wiederauftreten von Brunstsymptomen nach erfolgter Bedeckung bei der Kuh mit der Folge ausbleibender Trächtigkeit).
Der Bulle überträgt die Infektion; es erkranken nur die Kühe, nicht die Bullen selbst. Ursache des „Umrinderns“ sind bakterielle Erreger (Chlamydien). Meist half eine vorbeugende örtlich aufgetragene Bovoflamin-Salbe, die Infektion zu verhindern – leider nicht in Crainfeld.

Somit war die Schließung der Bullenstation notwendig und es wurde der Anschluss der Tierhalter an die „Rinderbesamungsstation Gießen“ vorgeschlagen. Die zukünftigen künstlichen Besamungen sollten die Grebenhainer Tierärzte Dr. Lange und Dr. Adam durchführen.
Damit entfiel für die Gemeinden und für deren Tierhalter der Aufwand für die Vatertierhaltung vor Ort. Ein weiterer Grund für den Aufschwung der künstlichen Besamung war die Vielfalt des genetischen Materials, das eine Besamungsstation bot.

Eberhaltung

Ein weiterer Vertrag der Gemeinde Crainfeld mit dem „Gemeindefaselhalter“ J. Herchenröder vom Oktober 1948 über die Haltung eines Ebers bringt diesem ein Entgelt im ersten halben Jahr von 150 Mark, danach jährlich 240 Mark, dazu „den abgängigen Eber“.
Auch die Eberhaltung wurde amtlich streng überwacht, wie ein amtliches Körbuch für Eber (kören = auswählen zu Zucht nach bestimmten Merkmalen) mit „Deckerlaubnisschein“ vom Aug. 1968 dokumentiert.

Die Eberhaltung in Crainfeld war von den Problemen der Bullenhaltung nicht betroffen; hier gab es schon mal andere Ärgernisse, wie eine schriftliche „Reklamation“ der Gemeinde Crainfeld im Aug. 1955 an den Verkäufer eines Ebers zeigt:
Drotz mehrmaligen Versuchen des Eberhalters ist der Eber nicht zu bewegen auf brünstige Sauen und Erstlingsschweine zu springen und den Deckakt durchzuführen.

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