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Balthasar Jost

Die Geschichte eines Auswanderers

Einleitung

Der Grebenhainer Balthasar Jost wandert 1867 in die USA aus

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts suchten auch aus Grebenhain Menschen ein besseres Leben in anderen Teilen der Welt, viele davon in den USA. Das Ortsbürgerregister (OBR) von Grebenhain verzeichnet allein zwischen 1837 und 1889 zwanzig Auswanderer, meist mit Familien. Nach den Angaben aus dem OBR betraf das rund 60 Personen.

Eines dieser Auswandererschicksale ist besonders gut dokumentiert: Dem Arbeitskreis Dorfgeschichte Grebenhain liegt ein umfangreicher Briefwechsel zwischen dem damals 22-jährigen Auswanderer Balthasar Jost und seinem in Grebenhain verbliebenen Bruder Ludwig („Louis“) vor. Die Briefe umfassen einen Zeitraum von 1867 bis zur Jahrhundertwende und dokumentieren sehr anschaulich die Lebensumstände des Auswanderers in den USA. Sie lassen aber auch Rückschlüsse auf das Leben der in Grebenhain Zurückgebliebenen in dieser Zeit zu.

Insgesamt liegen achtundzwanzig Briefe des Auswanderers Balthasar Jost im Original vor; neun Antwortbriefe des Bruders Louis sind nur als handschriftlich „ins Unreine geschriebene“ Texte erhalten. Dabei handelt es sich um Zufallsfunde in zwei alten Kladden des Gemeindearchivs.

Die mühsame Arbeit des Übertragens der Brieftexte aus der alten „deutschen“ Kanzleischrift in einen heute lesbaren Text (Transkription) ist noch nicht beendet; deshalb werden hier nur erste Beispiele des Briefwechsels vorgestellt. Weitere Briefe werden folgen!

Vorbemerkungen zur Schrift

Exkurs:

Unter diesem Begriff stellen wir weitere Informationen sowohl zur Auswanderung allgemein als auch zu den Lebensumständen der beiden Briefschreiber dar.

Schriftbild:

Wir haben – wie auch sonst auf unserer Homepage – alle Zitate und wörtliche Textwiedergaben in Kursivschrift gesetzt. Auch die Auswandererbriefe sind deshalb kursiv gesetzt worden: Ausnahmen sind nur die Exkurse und sonstige Erläuterungen im Text.

Schreibstil und Lesbarkeit:

Die beiden Briefschreiber, Balthasar und Ludwig "Louis" Jost, waren keine Schriftsteller, sondern arbeiteten körperlich hart. Die Schreibfeder zu führen war ihnen ungewohnt. Oft blieb auch nur abends nach der täglichen Arbeit oder sonntags ein wenig Zeit für das Briefeschreiben. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass manches nicht oder nur teilweise für uns zu entziffern war. Wir haben uns dann mit […?] oder [? unleserlich] beholfen.

Die Briefe sind nur von uns dort korrigiert worden, wo Schreibfehler sinnentstellend gewesen wären, um den Charakter der Sprache des 19. Jahrhunderts zu erhalten. Flüchtigkeitsfehler wurden bereinigt, die Zeichensetzung weitgehend angepasst und Absätze eingefügt. Altertümliche Worte wurden, wo nötig, erklärt.

Erster Brief aus Nordamerika, Mai 1867

­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­                                                                                                                      St. Louis, den 6. Mai 1867

Liebe Eltern, Bruder und Schwägerin!

Ihr werdet vielleicht schon längst auf einen Brief von mir gewartet haben, da ich aber die ganze Zeit auf der Reise gewesen bin, so war es mir unmöglich Euch eher zu schreiben, nachdem ich nun endlich an dem so lang ersehnten Reiseziele angekommen bin so ergreife ich die Feder, um Euch einige Zeilen zu schreiben.

Nachdem wir am 3. April auf das Schiff gekommen waren, wurden wir am Donnerstag den 4. April von einem kleinen Schleppdampfer hinaus aufs offene Meer bugsiert.

Liebe Eltern! Es ist ein feierlicher Augenblick wenn ein Schiff die Anker lichtet. Alle Passagiere sind an Deck, drei Kanonenschüsse ertönen, tausendstimmige Hochs erschallen und hinaus geht es ins offene Meer. Mancher würde, wenn er noch könnte, wieder zurückkehren, allein es ist zu spät; thränenden Auges steht er da, den Blick auf das verschwindende Vaterland gerichtet, und weht mit seinem Taschentuche dem deutschen Vaterlande ein letztes Lebewohl zu. Auch ich stand so auf dem Hinterdeck, mein Taschentuch in der Hand, und wehte Euch und der Heimath noch meine letzten Grüße zu. Ich stand solange bis ich nach zweistündiger Fahrt das Vaterland nicht mehr sehen konnte; doch genug hiervon, wenn ich Alles so weitläufig schreiben wollte so könnte ich 8 Tage lang schreiben.

Kurz: wir haben 21 Tage auf dem Wasser gefahren und hatten dabei mit vielen Beschwerden zu kämpfen, denn wir hatten während der ganzen Reise Gegenwind und stürmische Witterung, ja in der Nacht vom Samstag auf den Palmsonntag war der Sturm so heftig, daß wir uns Alle verloren glaubten. Schon am Tage war der Sturm so heftig, daß Niemand auf das Deck gehen konnte, dessenungeachtet ging ich doch hinauf, band mich an dem Mast fest und konnte so den Sturm recht betrachten.

O, welcher majestätische Anblick bietet das Meer in seinem Zorne dar, kirchthurmhohe Wellen drängen sich, jede einzelne Welle droht das Schiff zu verschlingen, doch dasselbe windet sich immer durch. Keine Feder ist im Stande dieses großartige Schauspiel zu beschreiben, auch ich muß es aufgeben, genug, der Sturm hatte sich Abends nach Sonnenuntergang etwas gemildert und wir lagen in den Kojen in der Hoffnung daß sich derselbe vollends legen würde, allein wir hatten uns gewaltig verrechnet, der Sturm nahm wieder immer mehr zu, die Wellen donnerten wider das Schiff, das einem angst und bange wurde; plötzlich um halb elf Uhr thät es einen Schlag, daß das Schiff in den meisten Fugen erschütterte, die Leute fielen aus den Betten heraus und das Wasser kam so stark die Treppenluken herunter, daß Alle glaubten das Schiff sei untergegangen.

den Jammer könnt Ihr Euch nicht vorstellen, der damals auf dem Schiff herrschte. Hier schrien Weiber nach ihren Kindern, dort Kinder nach ihren Eltern. Ich rief den Leuten zu , sie sollten sich beruhigen, es war ja nur eine Sturzwelle und sprang die Treppe hinauf, um mich zu erkundigen, da brachten vier Matrosen den 4ten Steuermann dem es beide Arme abgeschlagen hatte, es war ein fürchterlicher Anblick, doch ich komme wieder zu Weitläufigkeiten, auch ängstige ich Euch vielleicht, doch beruhigt Euch nur, wir kamen alle glücklich davon und dankten den anderen Tag, also am Palmarium, in einem öffentlichen Gottesdienste dem Herrn, daß er die Hand des Todes, die sich so drohend nach uns ausstreckte, gnädigst von uns abwendete.

Von nun an wurde das Wetter besser und es herrschte ein fröhliches Treiben auf dem Schiffe. Wir schauten nun jeden Tag nach Land aus, aber lange vergeblich, denn erst am 23. April Abends sahen wir die Lichter der Leuchtthürme von Amerika und die Offiziere sagten uns, daß wird den anderen Morgen Land sehen könnten, da waren wir alle glücklich und froh wie die Kinder,das Deck wurde in einem Nu zu einem Tanzboden umgeschaffen, rasch hatte sich eine Musikbande gebildet und es wurde so fröhlich, so lustig getanzt wie auf einer deutschen Dorfkirmes; ich ging diese Nacht erst spät ins Bett und als ich am anderen Morgen wieder frühe aufstand, da sah ich endlich das gelobte Land, mit seinen schönen weißen Landhäusern, mit seinen herrlichen Wäldern, wie im Feenland vor mir liegen, da waren alle Leiden und Qualen, die wir auf dem Schiff gelitten hatten, vergessen; wir umarmten uns vor Freude, und wurden auch denselben Tag nach Ney York ausgeschifft.

Wir konnten nun endlich den Western Metropolis, an dem wir unsäglich gelitten hatten, verlassen. Ich warne hiermit alle deutsche Auswanderer davor mit diesen amerikanischen Schiffen zu gehen, denn dieselben haben schlechte Kost, amerikanische Mannschaft, und fahren auch nicht so schnell wie die Bremer Postdampfer.

Weitzel und Rehberger holten uns am Cristle Garden ab und führten uns hinein in die Stadt in ein Gasthause, wo wir recht gut logierten; anderen Abends kam Sebastian Oechler zu uns, wir hätten ihn aber beinahe nicht gekannt, denn derselbe ist ungeheuer dick geworden und wiegt 184 ­Pfund. Er war sehr froh, daß er mich wieder einmal sah; nächstes Jahr wird derselbe wahrscheinlich nach Deutschland gehen, um seine Geschichten zu schlichten da könnt ihr ihn auch wieder sehn.

Freitag Abend den 26. April fuhren wir mit der Eisenbahn von Jersey City nach St.Louis ab, die amerikanischen Eisenbahnen sind viel praktischer eingerichtet wie in Deutschland, denn da ist in jedem Wagen ein Ofen, ein Wasserfass , ein Abtritt usw; auch sind die Sitze alle gepolstert.

Freitag Abend den 3. Mai kamen wir in St.Louis an, den anderen Morgen suchten wir Heinrich Appel auf; derselbe war sehr erfreut als er uns sah, er führte uns in der Stadt herum, und hat überhaupt alles Mögliche gethan, ich und Jost haben auch eine Nacht bei ihm geschlafen. Appel hat eine sehr gemütliche Wohnung, eine nette lustige Frau, hat aber keine Kinder.

 Samstag den 4. Mai kam mein Pätter nach St.Louis und holte mich ab nach seiner Farm, wo ich noch gegenwärtig bin, und auch noch einige Zeit zu verbleiben gedenke. Seine Frau hat wieder einen kleinen Buben, den ich aus der Taufe heben werde. Da es Euch und besonders meine Gothe interessieren wird, wie sich mein Pätter steht, so will ich bemerken daß derselbe, trotzdem er in keinem großen Hause wohnt, besser und schöner lebt wie in Grebenhain der größte und reichste Bauer. Er hat 2 Pferde, 7 Stück Vieh und 75 Stück Hühner. Das Häuschen liegt mitten in der Farm, welche ringsrum eingezäunt ist.

 Liebe Eltern! Seid so gut und besorgt mir die Einlage an Elise, nehmt Euch derselben etwas an und betrachtet sie als Eure Tochter, denn ich liebe sie immer noch und sie wird einst, wenn Gott will, meine Frau werden. Grüßt mir alle meine Verwande und Freunde besonders meine 3 Pätter und Gothen, mein Vetter Peter und Familie, Vetter Heinrich Bopp und Familie, Vetter Heinrich Ganß, Heinrich Ruhl, Heinrich Strauch und Familie, Gendarm Dahmer, Heinrich Keißner, Heinrich Kern, Adam Ganß, Heinrich Ganß Hansches, Velte Bopp, Ahlmüllers ganze Familie und überhaupt Alles was nach mir fragt und seid vielmals gegrüßt und geküsst von Eurem Euch ewig liebenden Sohn, Bruder und Schwager

                                                       ­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­ B. Jost

2. Brief aus Nordamerika, September 1867

St. Louis, den 28. September 1867 

Liebe Eltern, Bruder und Schwägerin.

Lange habt Ihr mich auf einen brief von Euch warten lassen. Doch weiß, wie das bei Euch geht. Meine Mutter wird immer gesagt haben: Ei , ihr Leut, ei, schreibt doch dem Jung emol." Aber da war den nächsten Sonntag die Rechnung zu schreiben, den anderen Sonntag war wieder etwas anderes da und so wurde der Brief an mich immer aufgeschoben, bis es sich dann endlich einmal schickte. Und da wurde dann der Brief an mich vom Stapel laufen lassen. Und ich erhielt endlich den Brief, was mich auch sehr freute, trotzdem er so spät kam. Über die Neuigkeiten, die ich darin vernahm, war ich sehr erstaunt. So hat also diese Judenseele doch mein Bäschen im Stich gelassen und Pittches Mädchen geheiratet. Doch ich hatte so etwas schon längst geahnt. Well, Gertrudchen wird sich zu trösten wissen. Was Kunze anbetrifft, so weiß ich schon aus anderen Briefen, daß Gertrudchen schon unten ist und daß bald Hochzeit sein wird. Ich sende ihnen aus der Ferne meine herzlichsten Glückwünsche.

Lieber Bruder, es macht mir großes Vergnügen , wie Du mir die Fahrt des Turn- und Singvereins auf den Hoherodskopf so lebhaft geschildert hast. Ich meinte, als ich dieses gelesen, ich wäre selbst dabei. Doch wenn Gott will und die schwere Not (?), so werde ich auch solche Feste wieder mit Euch feiern. In nicht geringes Erstaunen aber setzte mich die Nachricht, daß Du, lieber Bruder, und Dein Schwager Heinrich eine Ziegelei angefangen habt. Ihr hattet wohl schon davon gesprochen, allein ich dachte, es würde mit dem Sprechen sein Bewenden haben. Doch da habe ich micht geirrt, und Ihr habt einmal Energie bewiesen. Wenn Ihr es so energisch durchsetzt, so wird Euch das Glück, das ich Euch von Herzen wünsche, auch nicht ausbleiben. Liebe Eltern, wenn Hannditze Haus nicht so hoch kommen sollte, so könnt Ihr es für mich kaufen. Ich würde dann, wenn ich wieder heimkäme, ein kleines Geschäftchen (Bäckerei oder so etwas) anfangen.  Es wäre gerade der geeignete Platz dazu. Doch steckt Euch deshalb in keine Ungelegenheiten, denn es wird, wenn ich wieder hinaus komme, immer noch ein Plätzchen für mich da sein. Doch genug hiervon.

Große Freude machte es mir, daß Ihr Euch alle wohl befindet. Und besonders mein Pätterchen, das wohl doch seinem Pätter etwas nachgefahren ist. Ich weiß, daß er Euch alle großes Vergnügen machen wird, besonders meinen Eltern.

Großes, unendlich großes Vergnügen machten mir die Schriftzüge meiner Mutter. Aus diesen Zügen le.uchtet mir die mütterliche Liebe so lebhaft vor, daß ich meiner Rührung unmöglich Herr werden konnte. Dieser einfache ...(?)!  Mein Gott, ich habe ihn ungezählte Mal geküßt. Ihr werdet wohl über sie gelacht haben, aber das Mutterherz hat es richtig herausgefunden, was mich am meisten rührt und freute.

Was mich anbetrifft, so bin ich bis jetzt noch frisch und gesund, was das Beste ist, zumal die Cholera hier wieder ziemlich heftig  auftritt. Das Glück hat mich bis jetzt noch ziemlich in Schatten gestellt. Ich bin immer noch an der ersten  Million. Doch zu was auch große Reichtümer, man lebt ja doch. Diesen Sommer während der Ernte war ich bei meinem Pätter auf dem Lande. Ich arbeitete da bei den umliegenden Farmern und hatte mit einem Monat 64 Dollar verdient. Soviel verdient doch ein Knecht bei uns in einem Jahr nicht. Dass es mir aber auf dem Lande nicht gefiel, so ging ich nach der Ernte in die Stadt, um da in ein Geschäft zu gehen. Das war aber sehr schwierig, denn die Geschäfte gingen diesen Sommer sehr flau. Da bin ich dann fünf Wochen in der Stadt ohne Arbeit herumgelaufen und war während dieser ganzen Zeit  bei Heinrich Appel, der sehr viel für mich getan hat. Endlich erhielt ich bei einem Butcher oder wie man draußen  nennt: bei einem Metzger Arbeit. "Das wird ihm aber passe!" wird da meine Mutter ausrufen, "der groß (froß?) doch immer es Flaasch so gern."  Aber liebe Mutter, das ist hier nicht so wie draußen, denn erstens macht es hier keinen Unterschied. Denn hier ißt jedermann , reich wie arm, dreimal Fleisch den Tag und zweitens ist es das schwerste Geschäft unter allen. Denn der Butcher hat Tag und Nacht keine Ruhe hier. Ich bin auch nur drei Wochen dabei gewesen, dann habe ich quittiert und die Butcherei an den Nagel gehängt. Und so bin ich jetzt wieder ohne Arbeit. Ich will es jetzt einmal mit der Bäckerei versuchen. Es ist zwar auch ein schweres Geschäft hier, denn sie müssen die ganze Nacht durcharbeiten und können nur am Tag etwas schlafen. Allein es ist das einzige Geschäft, das ich, wenn ich hinausgehe, auch draußen treiben kann. Doch es wird mir schwer halten, eine Platz zu bekommen . Aber tröstet Euch, ich komme schon durch.

Vielleicht wird es Euch auch interessieren, etwas von den anderen zu hören, die mit mir (?) ins gelobte Land gefolgt sind. Heinrich Jost ist hier bei mir und steht eben gerade neben mir. Derselbe fühlt nicht ganz wohl und hat deshalb schon zwei Tage nicht gearbeitet. Es gefällt ihm hier sehr schlecht und recht, er sehnt sich wieder nach seinem lieben Frankfurt. Johann Kaiser ist der Glücklichste von allen. Demselben gefällt es hier sehr gut. Er ist draußen auf dem Land, wo sich auch Schnarr befindet. Ich und Jost haben sie vor vier Wochen einmal besucht. Es hat jeder ein Blockhäuschen geerntet und da leben sie ganz gemütlich. Kaiser war sehr froh, als er uns sah und er zeigt uns gleich sein Glück mit 13 jungen Hinkel und so weiter. Er sagte zu mir, Donner wetter, man lebe gerade wie Gott in Frankreich. Alle Dag dreimal Fleisch ze fresse. Ihr Leut, ihr glabt es goar net, Schnarr hat jetzt eigenes Land gekauft und wird den nächsten Monat einziehen.

Von dem Trauerspiel, das diesen Sommer in Amerika gespielt hat, werdet ihr gewiß auch viel aus den Zeitungen gelesen haben . Aus den Zeitungen habe ich viel gelesen von dem Brand des Frankfurter Doms. Es war dies der letzte Akt einer Tragödie, wodurch eine blühende große Stadt vielleicht für immer von ihrem hohen Standpunkt herabgestürzt wurde. Auch habe ich gelesen, daß wieder ein neuer Reichstag gewählt worden ist . Schreibt mir deshalb, was für unseren Bezirk für ein Mann gewählt worden ist. Ich bin sehr gespannt darauf. Durch Schnarr habe ich erfahren, daß meine Tante mit Karoline und Otto Meyer in New York angekommen  ist und auch schon wieder, mit  Ausnahme von Otto,  nach Belize Honduras abgegangen ist, ich habe kein Sterbenswörtchen von ihnen gehört, keinen Brief und keine Nachricht von ihnen bekommen, worüber ich sehr ungehalten bin.

Lieber Bruder! Lasse mich auf deinen nächsten Brief  nicht wieder so lange warten wie auf den ersten, und schreibe mir ja alles , auch das Geringste, was in Grebenhain und Umgebung geschieht, denn Du weißt nicht, wie einen das interessiert, wenn man so weit weg von der Heimath ist . Ich schließe mit der Bitte, dass du mir alles grüßest, was nach mir fragt, alle meine lieben Freunde und Bekannte, du kennst sie ja, denn das Register derselben ist mir zu lang. Besonders aber bringe dem Turnverein und Singsverein in meinem Namen ein Dreifach donnerndes Gut Heil aus. Auch könnt ihr mir meinen Turnpaß schicken. Derselbe würde mir sehr viel nützen.

Viele, viele Grüße an Dich, deine Frau, meine Eltern und besonders meinem Pätterchen von
                                                                        Deinem Dich ewig liebenden Bruder

                                                                                                       Balthasar Jost.

 Meine Anschrift ist
Mr. Balthasar Jost
cer off
[care of] John A. Nies
Market Street                        Between 8 und 9 St.
No. 812

3. Brief aus Nordamerika, Januar 1868

St. Louis den 6.Januar 1868.

 Liebe Eltern, Bruder und Schwägerin!

Euren Brief vom 28. Oktr. habe ich am 2. Dezr. richtig erhalten und mit Freuden daraus gesehen, daß Ihr noch Alle frisch und gesund seid. hauptsächlich freut mich dieses von meinem kleinen Pätterchen zu hören, möge es zu Eurer Freude empor wachsen, dieses mein sehnlichster Wunsch. Louis hat diesmal ein Meisterstück von meim Briefe gemacht, als ich die Federzeichnungen aus dem väterlichen Hause las, konnte ich mich kaum der Rührung enthalten, ich sah Euch alle im Geiste vor mir, sodaß ich wähnte mitten unter Euch zu sein, nur der Mittelpunkt, woraus sich Euer ganzes Leben dreht, ich meine das kleine Pätterchen, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, weshalb ich Euch bitte, mir doch eine Photographie deselben zu schicken, es würde mich sehr freuen. Lieber Bruder! Deine Neuigkeiten, die du mir geschrieben hast, sind ziemlich überraschend, namentlich überraschte mich die Hochzeit meines Bäschens mit Emil Ruhl, den ich wähnte derselbe sei in die Fremde gegangen, um sich einmal die Welt anzusehen, doch derselbe muß gleich wieder umgedreht sein, die Welt wird ihm zu groß gewesen sein, doch sagt den Beiden meine herzlichsten Glückwünsche. Die Nachrichten vom Sing- und Turnverein sind nicht sehr erfreulicher Natur; sie trifft das Loos alles Schönen, sie müssen vergehen, doch das Samenkorn ist gelegt, sie werden einst schöner und herrlicher wieder auferstehen, der Vorwurf, dass sie zerfallen, trifft nicht Euch alte Recken, sondern nur die Grebenhainer armselige Jugend, die von nichts weiß als von Spinnstuben, Kirmes und dergleichen, aber Vaterland, Vaterlandsliebe und andere [solche?] Regungen gehen über ihren Horizont hinaus, davon haben sie noch nichts gehört, es ist traurig aber wahr. die Nachricht, dass Oberförster Leo [Anmerk.: Forstamtsleiter 1876 – 1882] noch lebe und auf dem Wege der Besserung sei, erfüllt mich mit lebhafter Freude, wir hielten ihn alle für todt, da wir aus „den Nachrichten aus Deutschland“ gelesen hatten, derselbe sei auf der Jagd von einem Forstwarte erschossen worden, was mich mit lebhafter Trauer erfüllte. Den Wunsch meiner Mutter betr. Nachrichten von meinen Strümpfen und Hemden darüber konnte ich mich des Lachens nicht erwehren, doch daran erkenne ich wieder die mütterliche Sorgfalt, so dies denn dir mein liebes Mütterchen zur Nachsicht, daß dieselben noch alle am Leben sind, zwar hat der Feind (ich selbst) schon manche Bresche hineingeschossen, doch meine wackere Waschfrau füllt alle Löcher wieder aus und so werden sie noch manchen Stürmen des Lebens trotzen. Meine Waschfrau ist eine Frau eines Weich…renners [?] und aus der Gegend von Koblenz gebürtig, ich bin mit ihr sehr zufrieden, denn sie hält mehr auf meine Sachen als ich selbst. Was die hiesigen Produkten und Erzeugnisse anbetrifft, so sind sie fast dieselben wie in Deutschland nur man macht sich nicht so viele Mühe damit wie in Deutschland; von Düngen u.s.w. weiß man nichts, und doch bringt der jungfräuliche Boden Amerikas Produkte hervor, daß es staunenerregend ist. Die Haupterzeugnisse sind: Weizen, Mais (Welschkorn) Kartoffel, und hauptsächlich Obst, namentlich Aepfel und Pfersischy [Pfirsiche?] auch Hafer, Gerste und roggen werden hier gezogen, und der Taback- und Weinbau heben sich immer mehr, da das Klima sich trefflich eignet. Die Waldungen bestehen fast ausschließlich aus den herrlichsten Eichen, doch werden dieselben sehr ruiniert weil hier keine Spur von Forstverwaltung ist und jeder haut wie es ihm beliebt, auch findet man in den Wäldern Hiekory und Sykamonnbäume [wohl: Sycamore, Platanenart], doch sind sie weniger zahlreich als die Eichen.

Was mich und meine Schicksale nun anbetrifft, so sind dieselben nicht sehr merkwürdig. Nachdem das Fieber vorbei war und ich mich von meinem ziemlich unbedeutenden Kohlraben, wollte sagen Choleraanfall erholt hatte, kam ich am 10. Oktr. zu einem Schulmeister, welcher ein Knaben- und Mädcheninstitut hält, für häusliche Arbeit in Dienst ich musste da die Betten machen, alle Zimmer wöchentlich zweimal schruppen, Messer und Gabel putzen, Essen auftragen, Kartoffel schälen und dgl. mit einem Wort, ich war Küchendragoner geworden, hier war ich 13 Tage, da es mir aber nicht gefiel, und ich so ziemlich wie ein Neger behandelt wurde, schüttelte ich den Staub von den Füßen und ging wieder zu Appel wo ich einige Tage blieb, dann kam ich in eine Brauerei, wo ich gegenwärtig noch bin, es gefällt mir ganz gut hier, da sich meine ganze Natur, namentlich aber mein Magen sehr gut zum Bierbrauer eignet, Lohn bekomme ich 35 Dollar monatlich, und Kost und Logis frei, dafür muß man aber auch arbeiten, denn wir schaffen Sonntags wie Werktags jeden Morgen von 4 Uhr an bis Abends 6 Uhr, da könnt Ihr Euch leicht denken, dass an Schreiben nicht viel zu denken ist. Auch Spazierengehen und fröhlje[?] Schwitzen fällt ganz von selbst weg selbst; Selbst den ersten Christtage habe wir geschafft bis drei Uhr Nachmittags, und ich habe deshalb von Weihnachten nichts gesehen, was mich ganz wehmütig stimmte, doch da fange ich wieder an sentimental zu werden. was ich bald vergessen hätte, wenn mich mein Arm beim Umdrehen dieses Blattes nicht so grausam daran gemahnt hätte, ist dass ich am Sylvestertage beinahe verunglückt wäre, die Sache ist nämlich die: Ich stand im Keller und hängte Bier an, welches per Dampf hinauf gezogen wird, um in die Stadt gefahren zu werden, da fiel ein Ket [Anmerk.:engl. Kettle, dt: Metallkessel] Bier nicht ganz ein Viertel ungefähr 45 Fuß hoch mir mit solcher Gewalt auf die linke Schulter, daß ich gleich zusammenstürzte, jeder glaubte das sei mein letztes [Stündchen?], doch [wie] ihr schon draus wißt, ich habe ein ziemlich festes Leben und auch ziemlich gute Schultern, die schon einen Stoß vertragen können, denn ich hatte eine verhältnismäßig nur kleine Verletzung davongetragen, es ist weiter nichts verletzt, als der Schulterknochen, das sogenannte Schlüsselbein ist gebrochen und ich bin deshalb um es mit einem Jägerausdrucke zu belegen, flügellahm geschossen, jetzt bin ich wieder soweit hergestellt daß ich wieder aus dem Bette heraus kann, doch wird es, wie mir mein Arzt sagt, noch 14 Tage bis 3 Wochen dauern, bis ich wieder arbeiten kann. Es hätte leicht gefährlicher werden können, denn wenn mich das Ket richtig getroffen hätte, es hätte mich zu dreck[?] geschlagen, und jeder wundert sich, daß es so glücklich abgelaufen ist, doch hatte wahrscheinlich meine stunde noch nicht geschlagen, doch wie dem auch sein möge, ich freue mich, daß ich so glücklich davon gekommen bin, was mir gewiß Niemand übel nehmen wird. Meine Photographie kann ich Euch deshalb noch nicht schicken, weil ich, seit ich in Amerika bin, noch in keinem guten Einverständnis mit meinem Portemonai[?] gehabt habe, hoffe aber daß dieses bis nächstes Frühjahr geschieht. Schon lange warte ich auf einen Brief von Otto Mayer, da derselbe doch gewiß Grüße und Aufträge von Euch für mich hatte, doch bis jetzt habe ich vergeblich gewartet, ich werde ihn jetzt, da ich seine Adresse habe, einmal schreiben, um ihm einmal den kerzen [?] ausklopfen, auch von meiner Leufe[?] und Karoline Mayer habe ich keine […?] Wörtchen gehört, was mich beiläufig gesagt sehr geärgert hat. Alle Bekannte sind noch gesund und munter, Appel hat jetzt sein irjenes [?] Geschäft angefangen, derselbe hat jetzt einen schönen Laden und macht gut aus, auch H. Juß welcher sich Anfangs sehr nach seinem lieben Frankfurt zurücksehnte, gefällt es jetzt ganz gut.

Weiter weiß ich nichts zu schreiben, was Euch interessant wäre, so lebt denn Alle recht wohl und grüßt mir alle meine lieben Freunde und Bekannte besonders aber seid gegrüßt und geküßt von Eurem

Euch
innig liebenden Sohn und Bruder
Balthasar Jost.

Meine Adresse:
Mr. Balthasar Jost care of Mr. John A. Nies
Market Street 812 betwen 8 and 9 Str.
St. Louis . Mo. [=Abkürzung für Missouri]

4. Brief aus Nordamerika, März 1868

St. Louis, den 11. März 1868

Liebe Eltern, Bruder und Schwägerin!

Lange schon habe ich auf einen Brief von Euch gewartet, aber bis jetzt leider vergebens, da ich Euch schon Anfangs Januar geschrieben habe, so muß ich denken, dass mein Brief nicht angekommen ist, oder dass Ihr wieder keine Zeit zum Schreiben eines Briefes an mich habt, letzteres will ich jedoch nicht hoffen. Setzt euch an meine Stelle, weit hinaus in die Welt, unter lauter fremden Menschen Ihr würdet euch gewiß auch sehnen Nachrichten vom Elternhause, von Euren Freunden , Euer Heimat zu empfangen, deshalb liebe Eltern lasst mich nicht wieder solange auf einen Brief von Euch warten, es tuth so weh vergessen zu sein.

Was mich betrifft so habe ich mich von meinem Unfalle wieder gänzlich erholt und ich stehe schon seit Anfangs Februar wieder in Arbeit, der Schaden den ich genommen ist wieder glücklich ausgeheilt und ich freue mich dass ich so glücklich davon gekommen bin, ich trinke täglich meine 30 bis 40 Glas Bier und ich nehme zu an Alter, Gewicht und Verstand bei Gott  was einem doch pressieren [passieren] kann, fast wäre ich in die Schrift [Anmerkung: in die Todesanzeigen der Zeitung?] gekommen.

Neuigkeiten von hier weiß ich keine die Euch interessieren könnten nur dass die Geschäfte diesen Winter sehr schlecht gingen, sodaß viele hunderte auf die Mildtätigkeit Anderer angewiesen waren weil sie keine Arbeit folglich auch kein Brot hatten ich konnte mich deshalb sehr glücklich schätzen ein so gutes Winterquartier zu besitzen. H. Appel hat jetzt sein eigenes Geschäft angefangen.

Letzten Sonntag war ich in der Stadt auf der Spree, da habe ich dann von Peter Höll, früherer Bürgermeister von Reichlos erfahren, dass Paul Kimpel von Ober Moos nächste Ostern nach Amerika auswandern will und zwar direkt hierher nach St. Louis, deshalb bitte ich namentlich Dich lieber Bruder, denn Du hast ja etwas Pfeifenverstand mir zwei schöne echte Meerschaumpfeifen zu schicken denn hier sind sie ungeheuer theuer Du brauchst aber keine von den größten zu kaufen, denn damit würde man hier ausgelacht werden, sehe etwas mehr auf Fasson etwa wie die nebenstehende Zeichnung … [Zeichnung fehlt]

Die Auslagen werde ich Dir wieder zurückerstatten, die Mühe magst Du Deinem Bruder gethan haben.

 Ich schließe mit der Bitte, alle meine Freunde, Verwandte und Bekannte zu grüßen besonders aber seid recht herzlich gegrüßt und geküsst von

Eurem Sohn,
Bruder und Schwager
Balthasar Jost

 N.S. Schreibt gleich.

Antwortbrief aus Grebenhain, Dezember 1881

                                                                                                Grebenhain, d 7. December 1881

Lieber Bruder

Es ist, seit ich dir das letztemal geschrieben, wieder ein ziemlich Stück Zeit in das Meer der Ewigkeit versunken, und ich sehe mich deßhalb veranlaßt dir wieder ein Lebenszeichen von uns zu gehen zu lassen, sonst möchtest du im Ernst glauben, wir weren gestorben oder verdorben oder hätten dich gar vergessen. Letzteres brauchst das aber ganz sicher nicht zu denken, denn es vergeht kaum ein Tag, an welchem nicht von dir gesprochen wird; namentlich an die tollen Jugendstreiche wird sehr oft erinnert und diese Erinnerungen bringen, wenn es sonst in etwas gedrückter Stimmung bei uns zugeht, wieder Munterkeit und Frohsinn; denn die Folgen der Erinnerungen sind eine jedesmalige heftige Erschütterung der Lachmuskeln. Wenn wir aber auch „unsere Jugendzeit so sehen“ u. wie weit liegt sie schon hinter uns; wir werden alt und glaubens nicht. Ich z.B. werde öfters daran erinnert, daß ich alt werde, „Kerl, du bekömmest ja schon einen grauen Kopf“ mit dieser Anrede werde ich öfters angestaunt; wodurch nun diese grauen Federn entstehen, weiß ich nicht, denn viel Sorgen und Bekümmerniß mach ich mir nicht; es müst dasselbe somit als ein Zeichen der Schwachheit u. des Alters angesehen werden. Doch dem sei wie ihm wolle, ich kann die Grauen nicht zurückhalten wenn sie kommen u. so mögen sie dann da sein unbeschadet meines jugendlichen Sinnes, denn daß mir Frohsinn u. Humor noch nicht abgeht, dessen darfst du dich versichert halten. Doch jetzt genug hiervon.

Wie wir aus deinem letzten Briefe gesehen haben, so bist du noch in St. Louis und auch noch am alten Platze, was uns sehr recht ist, denn: “wer viel mächt, der viel fehlt“, sagt ein altes Sprichwort u. schließlich kommt man nun zur Einsicht, daß das Erste doch immer das Beste gewesen ist. Wenn du nun auch [unleserlich] St. Louis verlassen hättest u. hättest dein Asyl an einem neuen Platze aufgeschlagen, was würdest du dabei gewonnen haben? Sicherlich nichts als neue Sorgen, Plackereien und Scheerereien; und was wäre aus deinem lieben Jungen geworden? Derselbe wäre ja in guter Obhut zurück geblieben; allein Großeltern dagegen halten selten zur Kinderzucht, sie lassen den lieben Enkeln zu viele Freiheit, die kleinen Bosheiten derselben werden belächelt u. was noch Alles mehr geschieht; ich weiß das aus Erfahrung; Wenn aber des Vaters Auge das Kind überwacht, dann ist es anders, ein Wort! u. aus jedem unartigen Kinde, wird ein liebes folgsames Kind. Du hast deshalb nach meiner Ansicht ganz recht gethan daß du an deinem alten Platze geblieben bist.

Wie du uns mittheilst, so hast du starke Neigung zur Korpulenz; es ist dies ein Zeichen daß dirs recht wohl geht, welches uns Alle recht herzlich freut. Ich meinestheils habe starke Neigung zum Gegentheile.

Wir haben keinen Knecht u. da muß ich natürlich Knechtsarbeit verrichten, ebenso wie meine Frau Magdsarbeit thun muß, und da hat man leider keine Zeit zum korpulent werden. Weil ich jetzt gerade an diesem Thema bin, kann ich nicht umhin dir mitzutheilen daß ich beide Pferde „Bella u Thekla“ verkauft habe u. jetzt „auf Ochsen mein Glück probiere“, ich habe auch gleich im ersten Jahre einen schlachten müssen, welcher ein Bein gebrochen hatte, doch wollen wir diese Glücksieligkeiten bei Seite lassen, es kommt doch nicht viel dabei heraus.

Neuigkeiten gibt es hier ziemlich für Dich. Den Reigen muß ich aber leider mit einer Traurigen eröffnen, dein Petter Mayer hat aufgehört unter den Lebenden zu weilen u. wie gerne, gerne hätte er noch das Leben gekostet; aber es war ihm leider nicht beschieden; ich habe ihn einige mal besucht u. da sprach er immer die Hoffnung aus daß es bald wieder mit ihm besser gehen würde; aber leider schlug es zum Gegentheil mit ihm aus. Am 22 Septr Mittags 12 Uhr hauchte er sanft sein Leben aus; er hat so arg 3 Wochen gekämpft; hätte sich nicht Wassersucht zu seinem Brustleiden gesellt, so würde er vielleicht nicht gestorben sein; für deine Goth ist es ein schlimmer Fall; sie ist jetzt ganz allein, ihre Kinder sind in weiter Ferne; nun Friedrich ist in der Nähe, in Wetzlar Gesang Lehrer, und kommt jeden Samstag hierher um Sonntags wieder fort zu gehen und da fühlt sich die Frau so ganz vereinsamt und verlassen. Sie hat vor, zu ihrem Friedrich nach Metzlos-Gehaag zu ziehen, was auch für sie das Beste wär, hier ist sie ja doch unter fremden Menschen. Unserrm Jugendkamerad Karl Scheer ist sein sämmtliches Vermögen verkauft worden; er trieb Wirthschaft hier u. hatte sich dadurch so hineingewirthschaftet daß ihn schließlich die Schnapsfabrikant[en] alles verkaufen ließen. Gegenwärtig lebt er mit seiner ganzen Familie in Wiesbaden; was er dort treibt kann ich dir nicht mittheilen. Ich habe ihn sehr bedauert. Auch meinem Schwager Heinrich blüht jedenfalls dasselbe Loos.
Wollte Gott er bekäme einen anderen Sinn u. gäbe auf seine Sachen besser Acht.

Würdest du, lieber Bruder, wieder einmal hierher kommen, ich glaube du erkenntest Grebenhain kaum wieder; es hat seitdem viele Neuigkeiten hier gegeben, neue Häuser sind erstanden und alte verschwunden, „Heils“ haben einen weiteren Prachtbau dahin gestellt: auch „Rahns“ haben neu gebaut, nun! der kann gut bauen, die haben ein ausgezeichnet gutes Geschäft. Wenn andere Leute morgens aufstehen hat „Rahns Henmiche“ schon die Tasche voll Geld. Strauch hat nämlich die Kaß im Haus u. da kommt Nachts um 11 Uhr ein Wagen von Lauterbach u. um Nachts 11 ½ Uhr einer von Stockheim, es müssen nun alle Reisende hier übernachten und manchmal sind beide Kasten so besetzt daß Strauchs nicht alle beherbergen können und da kannst du dir denken, daß da Geld einkommt; u. daß Strauchs theuer sind, unverschämt theuer, habe ich schon hundertmal gehört er nimmt z.b. für „Bett u. Kaffe 1 ℳ 50 ₰" es ist in jeder Stadt billiger zu lagern als hier. Nun rechne selbst wenn 10 – 12 Mann übernachten was das ausmacht. Auch bleiben z.B. viele Geschäftsreisende mehrere Tage u. besuchen [unleserlich] die umliegenden Orte.

Auch hat es die s.g Haut vaulleé mit Kasino nämlich der H. Oberförster, Steuererheber, Postverwalter Pfarrer von Crainfeld der Lehrer u. noch mehreren reicheren Herren, die jede Woche 2 mal, Mittwochs u. Sonntags, zusammen kommen. „Wer im Rohr sitzt hat gut Pfeifen schneiden“ so gehts „Roahns“, die sind gegenwertig die best situierten Leute in ganz Grebenhain.

Mein jüngerer Schwager „Hannes“ der zu 17 Jahren neu kam und die Metzgerei erlernte, dann 3 Jahre als Artillerist in Darmstadt diente und dann noch verschiedene Stadte besuchte, heirathet jetzt die Witwe „Heils Marie“ und das ists Strauchs ein Dorn im Auge, sie haben Angst er möchte starke Concurrenz machen u. hoffentlich wird er das auch thun. „Hannes“ ist ein schlauer, prächtiger Kerl, der in der Welt herumgekommen, der sich gegen Jedermann benehmen weiß der reif ist; der überhaupt ein zünftiger Wirth gibt. Doch wir wollen diesen Leuten alles Gute u. alles Glück wünschen u. wollen von etwas anderem sprechen nämlich vom „Vogelberger-Höhen-Club“.

Er hat sich nämlich unter dem Namen „Vogelberger-Höhen-Club“ am 15 Juni 1881 ein Verein gegründet der folgendes bezweckt: den Besuch des Vogelsbergs leichter und anschaulicher zu machen durch Aufstellung von Wegweisern, Verbesserung der Gebirgswege, Herstellung von Aussichtspunkten u. Ruheplätzen, sowie durch Ausbildung von Fremdenführern u. Einwirkung auf Verbesserung der Gasthäuser, die Kenntmiß des Gebirgs in naturwissenschaftlicher, historischer und topographischer Beziehung zu fördern u. durch Vortrage, gesellige Zusammenkünfte u. gemeinschaftliche Drumherum, überhaupt durch Wort u. Schrift das Interesse für das Gebirge anzuregen u. zu entfalten.

Der Verein hat sich aus den Hauptorten des Gebirgs und dessen nechster Umgebung gebildet u. zählt gegenwärtig umherum hundert Mitglieder. Unser Großherzog selbst hat das Partentamt [wohl: Patenamt] übernommen; u. so kann vielleicht unserem, seither so stiefmütterlich behandelten Vogelsberg auch noch ein bescheidenes Plätzchen auf dem Jahrmarkt des Lebens angewiesen werden. Der Mann ist sehr rege u. schafft u. arbeitet daß es eine wahre Lust ist. Nachstehend zwei Gedichte die dir gewiß Spaß machen werden.
[Siehe Exkurs VHC Gedicht und Vogelsberglied]

Wünschen und grüssen wir unserem lieben Vogelsberge den durch den Höhen Club ohne Zweifel gefördert werdenden gesellschaftlichen Aufschwung u knüpfen daran die Hoffnung einer dadurch – wenn auch nur im bescheidensten Maaße – vielleicht an zu strebender bessere Zukunft.

Daß die Zukunft für uns armen Vogelberger nicht mehr so trübselig aussieht, zeugt schon daher, daß der Staat eine Secundär-Bahn von Herbstein nach Gedern baut und daß die Linie dann jedenfalls später weiter ausgeführt Stockheim–Lauterbach heißt, die dann auch unser Grebenhain in nächster Nähe heranführen dürfte u. die uns jedenfalls auch eine Haltestelle bringt. Also hoffen wir Alles Gute u. sehen mit Vertrauen dem Künftigen entgegen.

Was unsere geschäftlichen Verhältnisse betrifft, so sind sie noch dieselben wie vor Jahren. Mütterchen ist zwar jetzt schon fast 70. alt, allein es trägt diese Last doch mit der Kraft einer 40 Jährigen. Wie heißt [unleserlich] oft: „Ihe kann s´gaht naut mieh, aich werre doch bahl ahlt.“ aber dabei arbeitet sie umso mehr; was sie ja natürlich gar nicht mehr bräuchte allein müßig gehen ist ihr ein Gräuel. Doch du kennst sie ja, was brauch ich dir da noch zu sagen, sie ist noch wie früher: Gewiß wird dir noch ganz gut im Gedächtniß sein, daß sie dich öfters [unleserlich] aus der Mühlstube Kammer herab holte wenn du über einem Brief sitzend die Arbeit als eine Beschäftigung für den Narren hieltest.
[Beigefügt ist eine etwas ungelenke Bleistiftzeichnung eines Rehbock.]

Jetzt [unleserlich, wohl: denke ich] oft, diese Zeit müßte doch noch mehr da sein; es war noch eine schöne Zeit! Sie ist vorüber und hinüber in die Ewigkeit. Ich und meine Frau bewirthschaften jetzt, da wir knecht und magdlos sind, unsere Oekonomie; u. haben somit Anspruch auf den schönen Titel „Oekonomiewirthschafter“. Wir sind aber auch echte Oekonomiewirthschafter, nicht allein daß wir speien können wie echte „Fulder Drescher“, man sieht und riecht uns aber auch schon von Weitem die Oekonomie an, doch Spaß bei Seite, wir müssen recht arbeiten u. sind dabei froh u. vergnügt u. trotz der vielen Arbeit wird doch die edle Musica nicht beiseite gelegt, Abends wird dann ein schönes Streichquintett arrangirt wo schöne Strauß´sche Melodien neben anderen zum Vortrag kommen, auch an Zuhörerschaft fehlts uns oft nicht und so bringen wir manche vergnügte Stunden hin. Es ist schade daß unser erster Violonist kein Paganini ist, wir könnten sonst auf Reisen gehen. Wenn der in den höheren Lagen sich produzirt - ne ! dann ! nun, ich weiß nicht recht wie ich mich ausdrücken soll; schade daß du uns nicht mal bewundern kannst. Als Dirigent u. erster Geiger fungirt „Schuhschrgeminerches“ [Hausname, leider unleserlich] nicht des Alte, das ist längst den Weg alles Fleisches gegangen; als zweiter der 47 jährige „Kunze“ - der Alte, Kunze brauchte auf der Geige nicht weiter als „Geh mer nit üwer mai Äckerche“ – als dritter - dein Petter, der das tü tü – tä tä, gar schön fertig bringt, und als Baßgeiger stelle ich mich dir gehorsamst vor; du darfst dir aber nicht einen Brummigen, bärbeißigen Menschen darunter vorstellen, dem während des Vortrags die Haare zu Berge stehen, der, mit Brille auf der Nase, wüthend auf seinem Instrument herum hantirt, sondern einen Menschen, der ganz genau von dem oben gesagten das Gegentheil ist. Ich wollte nur, du könntest einmal unseren musikalischen Herzensergießungen beiwohnen, daß du aber dabei keine stumpfen Zähne bekämst, dafür könnte ich dir nicht bürgen.

Wir haben in diesem Jahre hier eine ganz abnorme Witterung; Im Jenner herrschte z.B. eine arge Kälte; so in der Nacht v. 14 z. 15. wo das Thermometer auf 21o Reamur unter Null [entspricht minus 17 Grad Celsius] sank. Dann fehlte nach der Frühjahrsaat der Regen; Nachdem alle Feldfrüchte bald dürr waren – mit unter war Gerste auch gar nicht geknospt u. aufgegangen – stellte sich der erste Regen am 26 Mai ein, der aber leider wenig schickte; der Hafer war, durch den Mangel an Feuchtigkeit etwas über Hand lang geworden und stand überdies sehr dürre, da nicht alle Keime gekeimt oder doch während der Keimens wieder mehr dorr geworden waren; der Reinertrag war ja gut namentlich war der Roggen ausgezeichnet gut. Über eine [Mittelerndte? Meint evtl.:Futtermittel?] kann manns aber doch nicht [unleserlich]. Der Strohertrag war ein sehr geringer; so auch der Ertrag des Heus; letzteres war aber von vorzüglicher Qualität. Da hingegen war aber der Ertrag der Kartoffeln hinsichtlich der Quantiät sowie Qualität ein ganz ausgezeichneter. Lange, lange Jahre haben wir keine so reiche Ernte gehabt wie in diesem Jahre. Wir haben z.B. mit 3 Taglöhnern an einem Tag 50 Säcke voll Kartoffeln ausgemacht. Die reichen Bauern hier haben so viel bekomen daß sie gar kein Keim unterschaffen konnten; so 250 bis 300 Säcke voll, das war das Maaß; weniger hat kein[er] bekom[m]en. Die Keller waren gepropft voll. Wir selbst hätten auch keine 2 Säcke voll mehr im Keller unterschaffen kann.

Man konnte, wenn man Kartoffeln kochen wollte, das Kellerloch in der Stube aufmachen und von da ganz bequem die Kartoffeln herauf heben.

Diesen Segen an Kartoffeln hat dem Bauer wieder doppelt ersetzt, was er an anderen Früchten für einen Ausfall hatte.

Die gegenwärtige Witterung im Herbst ist wieder eine ganz ausgezeichnete. Wir haben bis jetzt auch keinen Schnee u. keinen Frost gehabt. Leute haben noch bis zum December mit ihrem Vieh draußen im Feld geweidet. Die Starren, Rothkehlchen u. an. Vögel sind noch hier; die Weiden fangen zu treiben an. In der darmstädter Zeitung stand, daß blühende Kirschen in dieser Zeit keine Seltenheit seien. Es sind wie oben schon erwähnt ganz abnorme Witterungs-Verhältnisse.

Doch damit ich dir am Ende mit meiner Schreiberei nicht langweilig werde – wenn ich es dir nicht schon geworden bin – so will ich dann Ende zu setzen und mir noch einige Fragen, im Auftrag Mütterchens erlauben:

Wie geht dir´s, bist du u. dein lieber Junge auch recht gesund; beabsichtst Du nicht wieder zu heirathen? Wie geht’s deinen Schwiegereltern; u. was treiben sie. Weißt du etwas von deinem Petter Kaiser? derselbe schreibt nicht ein einzigesmal an seine Mutter, die doch so sehr an ihm hängt, sage oder schreibe ihm [wir haben keine Adresse von ihm] daß es ein Mutterherz tief, sehr tief verwundet, wenn es von seinem Kinde so ganz vergessen wird.

Lieber Bruder! Du hast uns eine Freude und ein Vergnügen bereitet indem du uns eine am. Zeitung schickst, die ich dir mit dürren Wörter nicht sagen kann. Die Zeitung ist ein so willkommener u. ersehnter Gast, daß wir Alle es kaum erwarten können bis der Postbote eine bringt, alle Hände greifen begierig danach, und wer am schnellsten, hat den Sieg. Wir sagen dir für dieses Geschenk unseren herzlichsten Dank.

Schreibe uns recht bald!!

Grüße auch deinen lieben Freund H. Appel recht herzlich. u. theile uns in deinem nechsten Brief mit wie es ihm geht, ob er noch recht munter, u. ob er sich auch noch dann u. wann unserer Jugendzeit erinnere.

Sage auch die herzlichsten Grüße deinen lieben Schwiegereltern.

Ganz besonders aber sei du gegrüßt u. geküßt von uns Allen, und noch ganz besonders von

Deinem L.

Exkurs: Überfahrt mit der „Western Metropolis"

Dieser 1864 erbaute Raddampfer war 85 Meter lang, gut 12 Meter breit und konnte bis zu 1000 Passagiere befördern. Auf Balthasar Josts Reise 1867 waren es nur 884 Personen, wohl auch weil gleichzeitig noch Handelsware (Fracht) transportiert wurde. Das Schiff  sei elegant eingerichtet gewesen und die Überfahrt habe im Zwischendeck einschließlich Beköstigung 55 Taler(1) gekostet.(2)

Anscheinend gab es aber erhebliche konstruktionsbedingte Mängel, denn das Schiff hatte auf seinen nur vier Überseefahrten drei Havarien bzw. reparaturbedürftige Werftaufenthalte, bis es Ende 1867 außer Dienst gestellt wurde.

Balthasar Jost hatte also Glück, dass ihm auf seiner Überfahrt nichts Gravierendes passiert ist.


Fußnoten

1) Ein Knecht verdiente damals jährlich meist nicht mehr als 40 Taler. Der vor 1871 auch in Hessen-Darmstadt übliche „Vereinstaler“ entsprach 1 3/4 Gulden (= 105 Kreuzer) im süddeutschen Raum. (https://germanycash.de/taler/vereinstaler.html 25.1.2020).

2) Ruf, Hans (Hrsg.): Türkheimer Heimatblätter, Januar 1975, S. 3.

Exkurs: VHC-Vogelsberglied und Lobgedicht auf die Verhältnisse im Oberwald

Das Vogelsberglied des Vogelsberger Höhen-Clubs

In diesem Antwortbrief des Louis Jost an seinen Bruder nach Amerika vom 7. Dezember 1881 wird von einem offensichtlich allgemein bewegenden Ereignis im Vogelsberg berichtet, nämlich der Gründung des VHC auf Veranlassung angesehener oberhessischer Bürger. Der VHC nahm durch die Heimatverbundenheit der Vogelsberger Bevölkerung einen schnellen Aufschwung: schon im September 1881 hatte der Verein mehr als 300 Mitglieder. Durch deren Aktivitäten wurden bald Wanderwege, Verpflegungs- und Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen und ein reges kulturelles  Vereinsleben in Gang gebracht. 

Obwohl die Vereinsgründung schon im Juni 1881 erfolgte, schrieb Louis den kompletten Text des Vogelsbergliedes erst im Dezember 1881. Woher Louis Jost von diesem Text erfuhr, ist unklar: er könnte einem der damals viel gelesenen Blättern für den Kreis Schotten oder einem regionalen Flugblatt entstammen.

Mein Vogelsberg

Dir, meinem Vogelsberg, gelte mein Lied!
Nennt man dich Bergezwerg, bist doch ein Glied,
Kettenglied deutscher Höh'n, die hoch zum Himmel seh'n,bist ein Stück Vaterland, nur nicht genug erkannt,
„so schön wie eins.”

Wonnig in reiner Luft badet die Brust,
alles ist Blütenduft, Jubel und Lust,
hier frisches Waldesgrün, dort Fels im Sonnenglüh'n,
Wild genug, Vogelsang, Weidgang am grünen Hang,
„Dörfer im Tal.”

Hier ein Forellenbach, dort Silbersee,
überall gastlich Dach, Erdbeer und Schleh',
Farrenkraut, Himbeerstrauch, Heidelbeer', Meilerrauch,
Eiche und Lindenbaum, Erle am Ufersaum,
„Buchen zumal.”

Tanne so hoch und schlank, Mastengestalt,
Straße mit Ruhebank, blau von Basalt,
Menschen so stramm und grad in ihrem Sonntagsstaat,
sanglustig, frisch und frei, fröhlich und fromm dabei,
„und stolz darauf.”

Vogelsberg, nimmer mehr geb ich für Geld dich her,
„laß nicht von dir!”

Josts handgeschriebener Text von 1881 enthält am Schluss aber eine zusätzliche kurze Strophe, durch die das heutzutage und offiziell vom VHC-Gesamtverein anerkannte Vogelsberglied verlängert wurde.

Bei Fleiß u. Redlichkeit Friede gedeiht,

Mäßigkeit, Reinlichkeit Kräfte verleiht,

Selbstgewis, Selbstgespür,

bringet zufried´nen Sinn.

Dieser Zusatz ist später aus dem Text entfernt worden– wann und mit welcher Absicht, muss offen bleiben. Wem wohl dieser bürgerlich-konservative Text ein Dorn im Auge war? 

 

 Der Verfasser des Liedes, Pfarrer Ferdinand Briegleb, (geb. 1818 im Pfarrhaus in Stockhausen, gest. 1910 in Darmstadt) war 1881 Mitgründer des Vogelsberger Höhen-Clubs (VHC); der Text zum Vogelsberglied ist das einzige uns erhaltene Gedicht von ihm.(1)

„Grad aus dem Oberwald kam ich heraus …“

Louis´ Brief nach Amerika enthält aber noch ein weiteres Gedicht, dessen Text als ein Trinklied „Grad' aus dem Wirtshaus komm ich heraus …“ im 19. Jahrhundert in mehreren Variationen kursierte. Den ursprünglichen Liedtext hat hier  ein Vogelsberger Dichter auf die hiesigen Verhältnisse umgeschrieben. Das Gedicht lobt die Besserung der misslichen Verhältnisse von Natur und Lebensverhältnissen durch die rege Tätigkeit des VHC.

Allerdings ist die Urheberschaft dieses Liedes nicht eindeutig: Im Vogelsberg bestand im 18. und 19. Jahrhundert eine „Familiendynastie“ von evangelischen Pfarrern namens Briegleb. Einer davon war Elard Briegleb (1822-1904), der sich im späten 19. Jahrhundert einen Namen als (Mundart-) Dichter gemacht hatte und ebenfalls als Autor in Frage kommt. In seiner 1896 veröffentlichten Gedichtsammlung mit dem Titel „Vivat der Vogelsberg!“ benennt Elard B. sich bescheiden als Herausgeber.(1)

Leider war dieses Gedicht „Grad aus dem Oberwald…“ (wie bei Jost üblich) in schwer zu lesender Handschrift geschrieben und teil unlesbar. Den ergänzten vollständige Text haben wir hier abgedruckt:

 

Dem Vogelsberger Höhen Club Vivat:

Grad aus dem Oberwald kam ich heraus,

Alter, wie siehst du so urweltlich aus!

Alles verwachsen, vermoost u. verpicht -

Nirgends  modern – culturelles Gesicht!

Rechter Hand, linker Hand - : gräßlicher Weg!

Nirgends ein Führer, u. nirgends ein Steg!

Bilstein u. Geiselstein  kummerbeschwert!

Von ur-ur-weltlicher Langeweil verzehrt!

Nirgends von fühlender Seele ein Hauch!

Nur aus des Fortwarten Pfeife der Rauch!

Aussicht vielherrlich; doch kein Perspektiv!

Wirthshaus u. Herberg sehr primitiv!

Wohl hört ich´s rauschen im alten Gestein;

Aber thut´s Wasser denn wirklich allein??

Müd und verwässert, mit durstigem Blick,

kehrt ich trübtraurig des Weges zurück.

Nun kam ich wieder nach Jahren daher;

Alter Geselle, man kennt dich nicht mehr!

Feierlich wallet dein lichtgrün Gewand,

Singen und Klingen durchbrauset dein Land!

Wege und Stege nach Richtmaß u. Schnur,

Auslug u. Moosbank in schönster Natur,

ringsum die alte, urwüchsige Art

Männlein u. Weiblein auf fröhlicher Fahrt!

Vom Hoherotskopf her Jubel und Scherz,

Daß es dem Bilstein durchzittert das Herz;

Und das Basalte aus mächtiger Brust

Jauchzen u. Klingen in trunkener Lust!

Und am Forellenteich, was muß ich seh´n?

Angelnd den blonden Sohn Albion´s steh´n!

Waldpfad hinunter – Tourist  an Tourist

Grad wie im Schwarzwald, bald Jude, bald Christ!

Und bei Frau Wirthin in Ulrichstein

Nichts nehr vom uralten Schnapsbranntewein!

Schwellendes Lager mit Linnen wie Schnee

„Forster Traminer“ auf luftiger Höh´!

„Heda, Frau Wirthin, ich leb wohl im Traum

„Wer gab der Wandlung hier Anstoß u. Raum?

„Gleich bei Traminerblut sag´ sie mir´s an!“ –

„Ei ja, das hat der Herr Höh´n-Club gethan.“

 

Ei du, mein Höhen-Club, trauter Verein,

allezeit sollst du gesegnet mir sein!

Dein Lob, das singe der lichtgrüne Wald,

dein Lob erklinge der alte Basalt!

Wohl in mir regt sich die hessische Art

Heisa, nun ziehts mich zu rüstiger Fahrt!

Seid mir gegrüßet, ihr waldigen Höh´n!

Sendet den Gruß auch hinüber zur Rhön!

Heisa, nun greif ich alljährlich zum Stab,

wand´re die Höhen bergauf u. bergab!

Vivat, du schönes, waldgrünes Revier!!

Brausendes Vivat, du Höhen-Club dir!!!


Fußnoten

1) https://fuldig.hs-fulda.de/viewer/image/PPN484187597/2/LOG_0000/  Vivat der Vogelsberg! : Gedichte, der lieben Heimat und allen Freunden und Verehrern derselben gewidmet / von Elard Briegleb. Zum Besten des Vogelsberger Höhen-Klubs herausgegeben, Erschienen: Gießen, Emil Roth, [1896]


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